26 Januar 2015
Von Denise Lachat
Verschiedene Schweizer Städte verfolgen Pilotprojekte für Cannabis-Vereine, Genf nimmt eine Vorreiterrolle ein. Die Genfer alt Bundesrätin Ruth Dreifuss erklärt ihr Engagement und spricht über die Erfahrungen in der Drogenpolitik.
Frau Dreifuss, mit dem Pilotprojekt für einen Cannabis-Club in Genf beschäftigen Sie sich weiterhin mit der Drogenpolitik, die Sie schon als Bundesrätin stark in Anspruch genommen hat. Wie war die Situation 1993 bei Ihrem Amtsantritt?
Ruth Dreifuss: Dramatisch: Die Bilder der offenen Drogenszenen in Zürich und Bern gingen um die Welt. Heroinsüchtige steckten sich über verseuchte Spritzen mit Aids an, wurden tot auf der Strasse gefunden, gestorben an einer Überdosis oder an unreinem, von kriminellen Händlern verkauftem Stoff. Spritzen lagen in den Parks und auf den Spielplätzen der Wohnquartiere in der Nähe der Szene – es war die schlimmste Zeit der Schweizer Drogenpolitik.
Damals beschritt der Bundesrat neue Wege.
Dreifuss: Erste Schritte hatte bereits mein Vorgänger, CVP-Bundesrat Flavio Cotti, eingeleitet. Und viele, die beruflich im Kontakt mit den Süchtigen und ihren Familien standen, hatten längst angefangen, pragmatisch Hilfe zu leisten. Sozialarbeiter wie Polizisten verstanden, dass dem Problem mit Repression allein nicht beizukommen war. Wer eine offene Szene gewaltsam schliesst, verschiebt das Problem. Darum sollten Heroinabhängige, die es nicht schafften, einem Methadonprogramm zu folgen, auf ärztliches Rezept sauberes Heroin erhalten.
Damals war sogar ein breiter politischer Konsens möglich.
Dreifuss: Zwischen den betroffenen Städten und den Kantonen waren die Spannungen am Anfang sehr gross. Jene, die das Problem nicht vor der Tür hatten, schauten gerne weg. In diesem Konflikt musste der Bundesrat für einen ruhigen Dialog sorgen, und tatsächlich arbeiteten angesichts der verzweifelten Lage sämtliche Regierungsparteien in einer Arbeitsgruppe mit. Die Reformen wurden dann einzig von der SVP nicht mitgetragen.
Reibungslos eingeführt wurde die neue Drogenpolitik aber nicht.
Dreifuss: Ich musste Kritik einstecken: Man hat mich sogar als Dealerin der Nation bezeichnet. Doch das Schweizer Volk hat sich wohl wie kein anderes mit der Thematik auseinandergesetzt. In einem Jahrzehnt gab es auf den verschiedenen Staatsebenen nicht weniger als 15 Abstimmungen zur Drogenpolitik. Und stets wurde der vom Bundesrat propagierte Mittelweg gewählt.
Wie würden Sie unsere Drogenpolitik im Ausland erklären?
Dreifuss: Ich habe sie schon als Bundesrätin häufig erklärt und tue das heute noch.
Genau: Sie sind Mitglied der vor vier Jahren gegründeten Global Commission on Drug Policy.
Dreifuss: Ja, ich bin eines der Gründungsmitglieder. Denn die Resultate der Schweizer Drogenpolitik mit ihren vier Säulen Prävention, Therapie, Repression und Schadenminderung interessieren international. Die grösste Neuerung war die Schadenminderung, da leistete die Schweiz Pionierarbeit. Das Prinzip heisst: Süchtige schützen sich selbst und ihr Umfeld. Saubere Spritzen sind dazu eine einfache, aber überlebenswichtige Massnahme. Drogensüchtige konsumieren in einem geschützten Raum, in dem sie nicht nur saubere Spritzen erhalten, sondern auch medizinische und soziale Betreuung. Diese Kontakte waren für die meisten der erste Schritt zu einem Ausstieg oder einer Therapie. Viele fanden dank diesem Ansatz wieder in ein stabiles Privat- und Berufsleben zurück.
Warum kann eine repressive Drogenpolitik keinen Erfolg haben?
Dreifuss: Um diese Frage zu beantworten, genügt ein Blick auf die Zahlen. 1961 wurde die internationale Drogenpolitik verbrieft. Doch in den letzten 50 Jahren sind Produktion, Handel und Konsum von Drogen nicht zurückgegangen. Eine rein repressive Politik richtet vielmehr grossen Schaden an.
Haben Sie Beispiele dafür?
Dreifuss: Russland ist das Land mit der repressivsten Drogenpolitik Europas. Und es ist das einzige europäische Land mit einer grassierenden Aids-Epidemie, vor allem unter Drogenkonsumenten. Tuberkulose und Hepatitis C sind weit verbreitet. Das soziale Elend unter den Betroffenen ist gross, und die Situation in den Gefängnissen ist dramatisch. Einer der ersten russischen Beschlüsse nach der Annexion der Krim war übrigens, die Abgabe von sauberen Spritzen und von Methadon zu stoppen. Jetzt sind die Heroinabhängigen wieder sich selbst überlassen – für viele war dies das Todesurteil. Sogar Länder wie Iran und China, welche den Kampf gegen Drogen mit brutaler Repression und sogar mit der Todesstrafe führen, haben inzwischen auch Massnahmen zur Schadenminderung eingeführt.
Eine repressive Politik ist also ineffizient?
Dreifuss: Ineffizient und blutig, wie das Beispiel Mexiko zeigt. Dort haben innert nur fünf Jahren 80 000 Menschen ihr Leben im Drogenkrieg verloren. Dem Kampf zwischen der Polizei und der Drogenmafia sowie dem Kampf innerhalb der Mafia selbst sind zahlreiche unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger zum Opfer gefallen. Die entführten und ermordeten Studenten sind nur ein Beispiel dafür. Statt Gesundheit und Sicherheit der Menschen zu fördern, bringt eine repressive Politik das Gegenteil. Dabei ist nicht die Substanz das Problem, sondern die Menge und die Häufigkeit des Konsums. Und natürlich wer sie verkauft und unter welchen Bedingungen.
Wie meinen Sie das?
Dreifuss: Wir vergessen manchmal, dass Substanzen, die als Drogen konsumiert werden, auch eine positive Wirkung haben können. Denken Sie etwa an Morphium, das für viele Krebskranke unverzichtbar ist. Wegen der Verteufelung der Substanz erhalten viele Menschen ausserhalb Europas die notwendigen Medikamente im Kampf gegen den Schmerz nicht.
Kritiker werfen Ihnen vor, mit der Forderung nach einer Cannabis-Legalisierung einen prinzipiell gefährlichen Stoff zu verharmlosen.
Dreifuss: Das Gegenteil ist richtig. Verharmlosung betreiben jene, die die Augen davor verschliessen, dass diese Substanz überall vorhanden ist, und dass die Anbieter ein Ziel verfolgen: Möglichst viele Kunden, möglichst schwer abhängig, möglichst viel Profit. Gerade weil ich um die Gefährlichkeit von Cannabis weiss, fordere ich eine staatliche Kontrolle. Denn das Konsumverbot hat einen riesigen Schwarzmarkt aufblühen lassen. In meinem Quartier ist ein veritabler Supermarkt unter freiem Himmel entstanden. Wir haben keinerlei Kontrolle darüber, was da gedealt wird.
Sie wollen also liberalisieren?
Dreifuss: Ich will regulieren. Kontrolle über den Anbau, den Vertrieb, den Verkauf, den Konsum inklusive Schutzalter: All dies gibt es in meinem Quartier, in den Pâquis, eben nicht! Beim Alkohol und beim Tabak hingegen hat die Schweiz diesen Weg eingeschlagen.
Wie fügt sich das Projekt für einen Cannabis-Club da ein?
Dreifuss: Ich spreche lieber von einem Verein als von einem Club, weil es um Verantwortung geht, nicht bloss um «Fun». Tatsache ist, dass Cannabis breit konsumiert wird, vom Gesetz aber auf die gleiche Schädlichkeitsstufe gesetzt wird wie Kokain oder Heroin. Da die Konsumenten wissen, dass dies nicht stimmt, foutieren sie sich um das Gesetz. Und wenn ein Gesetz lächerlich gemacht wird, muss die Politik handeln.
Fachleute warnen, dass das heutige Cannabis wegen seines höheren THC-Gehalts viel gefährlicher ist.
Dreifuss: Der höhere THC-Gehalt ist eine Folge der Prohibition. In den toleranteren Neunzigern war der THC-Gehalt von Cannabis noch tief. Es ist das Business-Modell der Dealer, in einem Risiko-Geschäft den Gewinn zu maximieren und immer stärkere, schädlichere Ware zu verkaufen. Das galt auch für die US-Prohibition: Whisky ersetzte Bier.
Was will das Genfer Pilotprojekt?
Dreifuss: Eine Arbeitsgruppe bestehend aus Mitgliedern aller Grossratsparteien hat ein Modell für Cannabis-Vereine skizziert, wie es sie heute schon in Spanien und Belgien gibt. Diese Vereine wollen nicht den Konsum von Cannabis fördern, sondern ihn als Genussmittel für vernünftige Erwachsene zulassen. So wie das heute beim Alkohol möglich ist, aber mit erschwertem Zugang; Alkohol ist ja überall erhältlich. Ich bin Präsidentin der kantonalen Kommission für Suchtfragen, der Fachleute von Gesundheits- und Sozialdiensten, Vertreter der Schule, Justiz und Polizei angehören. Wir wurden von der Kantonsregierung beauftragt, Vorschläge zur Machbarkeit eines begrenzten wissenschaftlichen Versuchs vorzulegen. Diesen Herbst sollten wir so weit sein. Beschliesst die Regierung, einen solchen Weg einzuschlagen, stellt sie einen Antrag an das Bundesamt für Gesundheit auf eine Sonderbewilligung.
Werden Sie selber mitrauchen?
Dreifuss: Nein. Es sei denn, ich hätte ganz schlimme Schlafstörungen oder andere gravierende Symptome, bei denen Cannabis helfen kann.
Die Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog hat Sie auf Facebook als Klumpfuss bezeichnet.
Dreifuss: Ach ja? Was hat Frau Herzog denn gegen Klumpfüsse? Im Ernst, ich meine, dass dieser Vergleich hinkt. Klumpfüsse sind in der Regel ein Geburtsfehler. In der Schweiz haben wir zum Glück fast keine mehr. Statt die Betroffenen zu diskriminieren, pflegt man sie und gibt ihnen die Chance, aufrecht zu gehen. Das strebe ich auch für drogenabhängige Menschen an.