ENCOD BULLETIN ZU DOGENPOLITIK IN EUROPA
AUGUST 2013
ITALIEN FINDET AUS DEM CANNABIS-SCHWINDEL
“Wer ändert die Welt? Die, denen sie nicht gefällt!”
Kuhle Wampe, Berlin 1932
Die Situation der Cannabiskonsumenten in Italien wird oft als düster geschildert und die Einrichtung von Cannabis Social Clubs wird nicht positiv gesehen. Trotzdem zeigen kürzliche Ereignisse, dass sich die Lage ändern könnte. Nicht nur wächst das Interesse am Konzept des Cannabis Social Clubs bei der Alternativen Szene und in manchen Medien. Auch von der Justiz kommen Signale, wie etwa die kürzlich ergangenen Urteile der drei Gerichte, die das Verfassungsgericht zur Überprüfung des Legitimation der Drogengesetze auffordern, die vor sieben Jahren verabschiedet wurden. Diese Gesetze wurden als Not- und Dringlichkeitsfall im Rahmen eines umfassenden Erlasses zur Finanzierung der Olympischen Spiele in Turin 2006 erlassen. Mittlerweile wurde erkannt, dass sie unter Umständen formuliert und erlassen wurden, die den Willen des italienischen Volkes untergraben, das in einem Referendum 1993 für die völlige Entkriminalisierung von Drogen gestimmt hatte.
Diese Entwicklungen, die sein Haupttätigkeitsfeld bedrohen, beunruhigen den ehemaligen Drogenbeauftragten Carlo Giovanardi, Miturheber dieser berüchtigten Drogengesetze. Mit einem unvorhersehbaren Statement in einem Interview mit der Presseagentur Dire am 16. Juli signalisierte Giovanardi Entgegenkommen, was den Anbau einer Cannabis-Pflanze zuhause angeht: „Bei einer kleinen Pflanze, die nicht in einer Plantage wächst, das heißt, die Pflanze, die man auf dem Balkon hat, da stimme ich absolut zu, hier ist es möglich, über eine Entkriminalisierung zu sprechen. Aber rührt mir meine Gesetze zur Strafverfolgung von Dealern nicht an.“
Gleichzeitig warnte Giovanardi die Abgeordnetenkammer, das Gesetz hinsichtlich der Unterscheidung der Bestrafung nach weichen und harten Drogen „nicht anzurühren“. „Zum anderen Punkt möchte ich die Abgeordnetenkammer einladen, Toxikologen zu befragen, die erklären werden, dass die aktiven Inhaltsstoffe der Cannabispflanze und deren Derivate heute vollkommen anders sind als vor 30 Jahren und dass sie auf die Konsumenten eine verheerende Giftwirkung haben.“ „Daher,“ so Giovanardi weiter, „geht die Vorstellung, dass es einen Unterschied macht, ob Kokain, Heroin, Ectasy oder Cannabis verkauft werden, komplett an der Realität vorbei, eben genau wegen der verheerenden Wirkungen von Cannabis. Man muss nur die Angehörigen von Verkehrsopfern fragen, die bei Unfällen ums Leben gekommen sind, die unter dem Einfluss von Cannabis verursacht wurden.“
Diese Erklärung ist die Antwort auf den Gesetzentwurf von Daniele Farina, Mitglied der linken Opposition im italienischen Parlament und seit langem Befürworter der traditionellen Hanfanbauvereine im Gemeinschaftszentrum Leoncavallo in Mailand. Bei der Vorstellung des Entwurfs vor dem Justizausschuss verkündete Farina, dass „im Jahr 2011 fast 2 Milliarden Euro in die Drogenrepression geflossen seien, davon 48,2 Prozent an die Gefängnisse, 18,7 Prozent an die Polizei und 32,6 Prozent an Gerichte und Präfekturen. Wobei die Gewinne des illegalen Handels sich auf fast 60 Milliarden Euro beliefen.“ Unterdessen steigt die Zahl der Gefängnisinsassen rasant an. Mehr als ein Drittel der Insassen ist laut Farina aufgrund der Drogengesetze verurteilt. 2011 waren es 41,5 Prozent oder 27.947 Personen bei 67.394 Insassen insgesamt
Der Gesetzesentwurf versucht, den momentanen Trend mit zwei einfachen Initiativen umzukehren: die Entkriminalisierung des Eigenanbaus von Cannabis „für den persönlichen Konsum oder für die Weitergabe an Dritte zum sofortigen Konsum, außer an Minderjährige“ und die Wiedereinführung einer Unterscheidung des Strafmaßes je nach Substanz.
Im Moment ist es aufgrund der derzeit regierenden Großen Koalition schwierig, vorherzusagen, ob das Vorhaben der linken Opposition erfolgreich sein wird. Ursprünglich war der Gesetzentwurf von einigen Mitgliedern der Demokratischen Partei mitunterzeichnet worden, und auch andere wichtige parlamentarische Fraktionen stehen dem Projekt nicht offen gegnerisch gegenüber.
Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass 2013 drei hohe Gerichte und zudem noch das einflussreiche Kassationsgericht die von Giovanardi eingeführten Gesetze als verfassungswidrig eingestuft haben, da sie unter äußerst fragwürdigen Umständen eingeführt worden waren. Sie sind der Meinung, die Gesetze seien ein unzulässiger Not- und Dringlichkeitsfall und stellten tatsächlich ein unrechtmäßiges Vorgehen dar und kritisieren auch, dass die Unterscheidung zwischen Cannabis und anderen Drogen aufgehoben wurde.
Nach Meinung vieler Beobachter stellt der radikale Wandel der Drogenpolitik 2006 einen „Imbroglio“ dar, einen veritablen Schwindel. Mitglieder des Parlaments waren gezwungen, über eine einfache Etat-Maßnahme abzustimmen und innerhalb dieser Maßnahme wurde ein radikaler Umschwung in der Drogenpolitik vollzogen, der fast ohne Diskussion durchgewunken wurde.
Die Entscheidung des Kassationsgerichts greifen nun einige auf, die vor Gericht wegen Cannabis verurteilt worden sind, denn das Gesetz muss jetzt auf den Prüfstand und die ergangenen Verurteilungen könnten unwirksam werden.
Laut Herrn Saraceni, Senior-Anwalt und ehemaliges Parlamentsmitglied, hatten die Parteien des rechten Flügels zur Umgehung der Volksbefragung von 1993 zuerst vorgeschlagen, eine kleine Korrektur an einem anderen Gesetz vorzunehmen, das rückfälligen drogenabhängigen Gefängnisinsassen Zugang zu Therapiemöglichkeiten gegeben hätte. Dann wurden – einer Zauberformel gleich, die zu einem Zirkus besser gepasst hätte als zu einer Parlamentsversammlung in einem westlichen Land – weitere 23 Paragraphen in dieselbe Verordnung hineingeschmuggelt, die schließlich fast unbemerkt angenommen wurde.
Der italienische Schwindel ist ganz klar ein Teil des allgemeinen Schwindels, der auch als Krieg gegen Drogen bekannt ist. Er erinnert an andere Fälle der Umklassifizierung von Cannabis, wie es etwa in Großbritannien entgegen der Einschätzung der meisten Toxikologen geschehen ist, oder an die kürzlichen Versuche Brasiliens, Drogenkonsum zu kriminalisieren. In Italien lief wohl alles etwas versteckter ab.
Der Not- und Dringlichkeitsfall, auf den man sich berufen hatte, um die strengsten Drogengesetze Europas zu verabschieden, hat zu der Überbelegung unserer Gefängnisse mit Cannabis-Konsumenten und -Anbauern beigetragen.
Um den Weg aus diesem Schwindel wieder herauszufinden, ist eine Mobilisierung der breiten Gesellschaft nötig, zusammen mit einer stärkeren Verteidigung der verurteilten Cannabis-Freunde vor Gericht. Aber auch ein offeneres Engagement derer, die gegen Unterdrückung sind, kann möglicherweise einen Wandel begünstigen und Gegner der Prohibition und Opfer dieser Verstrickungen vereinen.
Von Enrico Fletzer
NEUES AUS DER ZENTRALE
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