ENCOD-BULLETIN ZUR DROGENPOLITIK IN EUROPA
FEBRUAR 2014
HANFIGE ATMOSPHÄRE IN ITALIEN UND DRUMHERUM
In Italien wie auch in anderen europäischen Ländern liegt eine mögliche baldige Änderung beim Thema Cannabis-Politik in der Luft. Wahrscheinlich ist der aktuelle Trend in Nord-, Mittel- und Südamerika ein Grund dafür, aber auch die Krise der traditionellen politischen Parteien auf dem alten Kontinent. Auch für die soziale und Menschenrechtsbewegung ist Europa ein zentraler Schauplatz für den Wandel und die kommenden Europaparlamentswahlen sind ein wichtiges Ereignis für eine mögliche Neuausrichtung der Drogenpolitik. Vielleicht ist das der Grund, warum viele Anti-Prohibitionisten in Encod eine Schlüsselfigur bei der Beendigung der Prohibition mittels internationaler Zusammenarbeit sehen.
Auch in Italien ändert sich etwas. Die typische Gefahr in Italien ist, dass sich alles zu ändern scheint, während im Endeffekt alles beim Alten bleibt. Zum Beispiel eine oberflächliche Reform des Gefängnissystems statt der Abschaffung kontraproduktiver Gesetze, was eine mögliche Strategie der italienischen Exekutive sein könnte, um eine Umsetzung der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu umgehen. In der Folge hätte das Land problemlos Zugang zur EU-Präsidentschaft, obwohl die strukturbedingten Menschenrechtsverstöße in Polizeistationen und Gefängnissen weiterhin bestehen blieben.
In letzter Zeit gab es etliche Erklärungen für die Entkriminalisierung des Konsums und Anbaus von Cannabis aus unerwarteter Richtung, von Liberalen des rechten Flügels und sogar aus den rassistischen Reihen der Lega Nord. Der Trend ist positiv, seit der Stadtrat von Turin einem Gesetzesvorschlag zu Cannabis-Anbau und -Entkriminalisierung zugestimmt hat, der bald in Rom, Mailand und anderen Städten diskutiert wird. Es war eine sehr umstrittene Abstimmung, bei der der Riss durch die Demokraten aber auch durch die anderen Parteien ging. Konservative Zeitungen wie La Stampa und das Wochenmagazin Panorama gaben an, dass überwältigende 90% ihrer Leser für eine Regulierung von Cannabis sind. Die Diskussion ist ziemlich offen und beinhaltet auch Standpunkte einiger berühmter Intellektueller, die sonst auf Mafiageschichten spezialisiert sind.
In Italien, einst Hanfhochburg in Europa, gibt es endlich erste Zeichen von Optimismus. In Bologna würden es die Altvorderen als hanfige Atmosphäre bezeichnen. Besonders trifft das auf die italienischen Aktivisten zu, die sich auf den 11. Februar freuen, wenn das Verfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit der verabschiedeten Drogengesetze entscheidet, die entgegen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit Cannabis mit Heroin gleichstellt. Das Gesetz kam zudem unter sehr fragwürdigen Umständen zustande. Man könnte es ein juristisches Kuddelmuddel nennen, oder schlimmer noch, einen glatten Betrug, da die Beschlüsse unter einem Deckmantel zusammengeworfen wurden wie bei einem Zaubertrick.
Aus diesem Grund werden die Vorwürfe vieler Gerichte, die Gesetze seien verfassungswidrig, als rechtmäßig erachtet. Dieses Argument kann tatsächlich von Anwälten in Verfahren wegen Cannabis geltend gemacht werden. Daher hat die Antiprohibitionsbewegung das Gesetz umgehend für illegal erklärt, siehe Webseite. Hier ist unter anderem das Manifest der Demonstration am 8. Februar zu finden: Die Zukunft kultivieren!
Durch die Abschaffung des auf einer irrationalen Angst vor Cannabis beruhenden Gesetzes würde man zum Stand von 2006 zurückkehren. Weitere Fortschritte sollen jedoch aus den Reihen der Aktivisten vorangetrieben werden, etwa die Eröffnung von Cannabis-Clubs und eine vernünftigere Cannabispolitik. Das wird auch das strategische Ziel im Nachgang der Demonstration sein, mit dem Hauptaugenmerk auf dem Recht auf Anbau und dem Anrecht auf eine Pflanze als allgemeines Menschenrecht.
Das Ziel ist nicht nur massive Beteiligung und Registrierung von Gruppen und Einzelpersonen sowohl auf lokaler als auch internationaler Ebene. Hier regt sich einiges, da viele Busse und sogar Flugzeuge nach Rom gechartered wurden und es könnten sich Cannabisfreunde aus ganz Europa beteiligen. Aber wir müssen auch die Medienzensur durchbrechen. Wir werden uns benehmen müssen und als politischer Gigant auftreten, der aus der Gosse aufsteigt, nachdem er lange als krank und kriminell angesehen wurde. Also müssen wir alle unser Bestes geben und dürfen niemandem erlauben, zukünftige Erfolge zu gefährden. Vorwärts immer, rückwärts nimmer.
Der Protestmarsch am 8. Februar in Rom wird das erste wichtige Ereignis unserer kollektiven Anstrengungen zur Abschaffung eines Drogengesetzes, das dem europäischen Geist entgegensteht. Wir präsentieren Musik und Vorträge, es nehmen etwa 12 große LKW teil und wir werden einige wichtige Orte auf unserer Tour besuchen, die am Mittag am römischen Platz genannt „Mund der Wahrheit“ startet.
Der Legende nach hat Virgil an jener Stelle eine Metallschlange erschaffen, die jeden Lügner beißt, der sich traut, seine Hand in das Loch zu stecken. In diesem Fall erzählt der Hauptlügner, Herr Serpelloni von der Anti-Drogenbehörde, der Welt immer noch, in Italien würden Drogenkonsumenten nicht im Gefängnis landen.
Dieselbe Behörde, direkt mit dem Premierministerium verbunden, wird Italien als letzten Antidrogenkrieger beim Treffen der Suchtstoffkommission im März in Wien vertreten. Herr Serpelloni scheint der einzige italienische Bürokrat zu sein, der trotz aller politischen Veränderungen der letzten Monate immer noch im Amt ist. Fast wie eine religiöse Figur, die trotzdem auch wissenschaftlich scheinen will, als Propagandaleiter, der auch den bärtigen Gott Ozean herausfordert, der im alten und neuen Rom den Ort bezeichnet, an dem die Wahrheit noch immer Pflicht ist.
Die geplante Route des Demonstrationszuges führt am Justiz- und am Gesundheitsministerium vorbei und am alten, direkt an der Tiber gelegenen Gefängnis von Regina Coeli, wo die Insassen mitmachen werden. Die Route wird auch einen starken symbolischen Charakter haben und in der kollektiven Erinnerung noch lange nachwirken.
Die Drogengesetze und die Kriminalisierung von Migranten haben zur derzeitigen Überbelegung der Gefängnisse geführt. Mehr als 9000 der Insassen sind wegen Cannabis dort. 2011 waren 41,5 Prozent der Gefangenen wegen Drogendelikten eingesperrt: 27.947 von 67.394. Etwa die gleiche Anzahl Menschen, die noch immer in Zellen lebt, die kleiner als 3 m³ sind. Das ist der Grund für das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Straßburg, der im Fall Torreggiani gegen Italien dem Land einen Rückfall zu unmenschlicher und entwürdigender Behandlung bescheinigt. Die Regierung ist in Sorge, dass der Termin im Mai verstreicht, ohne dass alle Zusagen Italiens erfüllt werden, die das Land demokratisch aussehen lassen sollen. Wir müssen also sicherstellen, dass Italien die Prüfung nur dann besteht, wenn die dringend nötigen Strukturreformen in der Drogen- und Einwanderungspolitik wirklich durchgeführt werden.
Tatsächlich haben die Kosten für dieses illegale Gesetz keine nachhaltigen Auswirkungen. Parlamentsmitglied Daniele Farina, der einen Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung des Cannabisanbaus eingebracht hat, stellte fest, dass Italien 2011 für Repression 2 Milliarden ausgegeben hat, von denen 48,2 Prozent in Gefängnisse flossen, 18,7 Prozent in Polizeieinsätze und 32,6 Prozent ins Justizsystem. Dennoch schuf dieses Verbotssystem einen Schwarzmarkt mit einem Umsatz von mindestens 60 Milliarden für illegale Organisationen. Allein die kalabrische ’ndrangheta hat den Hafen von Gioia Tauro, den wahrscheinlich wichtigsten Knotenpunkt für Kokain in Europa, komplett unter Kontrolle.
Mauro Palma aus dem Vorstand des Komitees für die Verhütung von Folter hat vor Kurzem Italien mit Deutschland verglichen. In letzterem gibt es 8000 wegen Drogen Verurteilte, in Italien dagegen 14000, wovon 9000 auf Cannabis zurückgehen. Nicht zu vergessen die Diskrepanz zwischen 8500 wegen Steuerdelikten Verurteilten im Gegensatz zu 150 in Italien, einem Land, in dem Korruption eine viel größere Rolle zu spielen scheint.
Von Enrico Fletzer
NEUES AUS DER ZENTRALE
Auch außerhalb Italiens heizt sich die Debatte um eine Cannabisregulierung auf. In Spanien plant die konservative Regierung die Einführung eines neuen „Gesetzes für die öffentliche Sicherheit“, das höhere Geldstrafen für Besitz und Anbau von Cannabis vorsieht und damit die wachsende Cannabis-Social-Club-Bewegung zerschlagen will.
Die französische Senatorin Esther Benbassa von der Grünen Partei hat einen Gesetzesvorschlag angekündigt, der Anbau und Vertrieb von Cannabis in die Hände des Staates legen will.
In den Niederlanden unterstützen mehrere Bürgermeister eine „Durchgängige Regulierung“ (Joint Regulation) von Cannabis-Anbau und -Vertrieb und greifen damit offen die Sturheit von Justizminister Ivo Opstelten an, der weiterhin das Unausweichliche ignoriert: Die Notwendigkeit, nach fast 40 Jahren Duldungspolitik endlich die Hintertür der Koffieshops zu regulieren.
Der rote Faden, der sich durch Europa zieht, scheint die Angst der Politiker zu sein, die Wahrheit über etwas auszusprechen, über das viele Generationen lang gelogen wurde. Daher muss eine Veränderung durch die Bürger angestoßen werden. Wir freuen uns darauf, was in Deutschland nach dem Millionengewinn des Vorsitzenden des Deutschen Hanfverbands, Georg Wurth, passiert, der mit dem Gewinn aus der Fernsehshow die deutsche Legalisierungsbewegung voranbringen möchte.
Kommenden Monat wird sich Encod am 8. Februar am Marsch in Rom beteiligen und verschiedene Aktionen während des Treffens der UN-Suchtstoffkommisson in Wien vom 13. bis 21. März vorbereiten, ebenso für die Wahlen zum Europaparlament am 25. Mai.
Es haben sich Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Arbeit zusammengeführt wird. Alle Encod-Mitglieder sind zur Teilnahme herzlich eingeladen: Meldet Euch, wenn Ihr mitmachen wollt.