ENCOD BULLETIN ZU DROGENPOLITIK IN EUROPA
MÄRZ 2016
Drogenpolitik, Prohibition und Menschenwürde
Welche Drogen am verbreitetsten sind ändert sich im Lauf der Jahre. Und damit ändert sich die Kultur, das Verhalten, die Umwelt der Konsumenten. Ebenso ändert sich die soziale Wahrnehmung von Drogenkonsum (zumindest bei einigen Drogen). Nur eines hat sich seit 1950 nicht verändert: die politische Entscheidung, beim Thema Drogen mit strengen Verboten zu reagieren. Und dennoch wird das Versagen der Verbotsstrategie generell anerkannt.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Zahl der Länder, in denen konsumiert wird, erhöht, ebenso die Menge der konsumierten Substanzen und auch die Anzahl der (gelegentlichen, gewohnheitsmäßigen oder chronischen) Drogenkonsumenten, die Verteilungsgebiete (bis hin zu einem Punkt, wo Drogen für jemanden, der den Markt kennt, leicht zu beschaffen sind, selbst nachts und in der Urlaubszeit).
Daher müssen folgende Fragen gestellt werden: Gibt es zu diesem Versagen eine Alternative, eine, die die Sache von der Ebene des persönlichen Leidens und der sozialen Kosten her angeht? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir die Schlagworte sein lassen und die Situation untersuchen (mit Logik und in einfachen Worten).
Zuallererst eine Überlegung. Die gesetzliche Regelung von Drogen und ihrem Gebrauch war nicht immer so wie sie jetzt ist. In Italien bestraft das am 18. Februar 1923 verabschiedete Gesetz mit der Nummer 396 (der Anfang der Regulierung dieses Bereichs, der einen Abschnitt mit dem Titel „Maßnahmen zur Zügelung des missbräuchlichen Inverkehrbringens von Betäubungsmitteln“ enthält) nicht den Drogenkonsum des Einzelnen, sondern sanktioniert eher zaghaft „Konsum in der Gruppe“ und „illegalen Handel“. Mit dem Strafgesetz von 1938 wurde diese Situation erheblich geändert (wenn auch gemäß der autoritären faschistischen Ideologie) und führte die Straftatbestände „heimlicher Handel mit Betäubungsmitteln“ und „kriminelle Beihilfe zum Konsum und Verkauf an Unter-16jährige durch Apotheker“ ein, jedoch wurde der Konsum des Einzelnen nicht verfolgt und nur Personen mit einer Ordnungswidrigkeit bestraft (gemäß dem mittlerweile gestrichenen Paragrafen 729), die „in der Öffentlichkeit oder im privaten Kreis in einem stark veränderten Bewusstseinszustand aufgrund von Betäubungsmitteln“ erwischt wurden.
Der Konsum von Drogen – nicht nur in den Eliten der Bevölkerung (die berühmten „Literaten und Apotheker“), sondern durch alle sozialen Klassen verbreitet – wurde ebenso toleriert und stellte tatsächlich einen Teil der normalen Gewohnheiten dar. Die Gleichgültigkeit der Institutionen bot nur die Möglichkeit des repressiven Eingreifens (auf sehr gemäßigte Art und Weise), wenn der Drogenkonsument die öffentliche Ordnung störte oder den Frieden anderer.
Grundsätzlich unterschied sich das Drogengesetz nicht von den Regeln zu Alkohol, dessen Verkauf an Minderjährige ebenso verboten war wie der Missbrauch (§ 688 desselben Gesetzes), jedoch nur, wenn es dadurch zu „störender Betrunkenheit“ kam (z.B. Störung von anderen). Sicher, die soziale Situation und die Verbreitung von Betäubungsmitteln war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine ganz andere als heute. Dennoch war das Modell des institutionellen Eingreifens – sogar in autoritären und paternalistischen Gesellschaften – genau das Gegenteil eines strafenden Eingreifens.
Die prohibitionistische Perspektive ist auch, sogar historisch gesehen, eine mögliche Strategie, die wie jede andere Strategie danach bewertet werden sollte, wie die erzielten Ergebnisse hinsichtlich der individuellen Rechte und der öffentlichen Sicherheit aussehen. Das Resultat dieser Bewertung ist, wie schon gesagt, für jeden sichtbar: Die Prohibition hat in beiden Bereichen komplett versagt. Und doch machen wir weiter, als wenn dem nicht so wäre. Wenn überhaupt, dann verhelfen wir manchmal Prohibition und Bestrafung oder paradoxen Interventionen wie der Einführung eines unausgesprochenen „Strafrecht des Anscheins“ zu einer Renaissance. Paragraf 73, Absatz 1 bis, Buchstabe a des Textes zu Betäubungsmitteln, wie durch Gesetz Nr. 49/2006 geändert, sieht tatsächlich den Straftatbestand des Besitzes (und ähnlicher Umstände) vor, wenn „Betäubungsmittel oder psychotrope Substanzen aufgrund der Menge, der Art der Präsentation oder anderen Umständen anscheinend nicht ausschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt sind“. Die strafrechtliche Relevanz des Gesetzes bezieht sich also auf den Anschein und nicht auf die Tatsachen.
Dieser Ansatz zeugt strenggenommen von rein ideologischen Vorurteilen, die auf der Ideologie von Gut und Böse fußen, wobei „das Böse“ die Drogen und ihre Konsumenten sind. Es muss nicht erwähnt werden, dass in dieser Manichäischen Kontraposition kein Platz ist für die Bewertung dieser Ergebnisse für die Menschen, deren Individualität und Würde für nichtig erklärt wird und die auf gesichts- und seelenlose Statisten in einem Feldzug reduziert werden. Der bewaffnete Flügel in diesem ideologischen Krieg ist die strafrechtliche Verfolgung, die wiederum auf der trügerischen und ach so bequemen Annahme basiert, dass ein Verbot etwas verhindern könne und dass das Androhen und Vollziehen von Strafe an sich fast schon automatisch eine Verringerung des „abweichenden“ Verhaltens (in diesem Fall des Substanzkonsums) nach sich ziehen würde.
Wenn wir die Ideologie aufgeben und uns andererseits die Fakten ansehen, dann ist die Erforschung alternativer Interventionsmöglichkeiten keine Option, sondern Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit bedeutet ein Experimentieren, das heißt ein Entwickeln von Ansätzen, die keine Heilsversprechen, sondern vernünftig sind, und die genauer Prüfung und Verifizierung unterliegen, wie es für wissenschaftliche Forschung und soziales Handeln typisch ist. Dies bedeutet konkret im Bereich Drogen eine Politik der „Schadensminimierung“, also Eindämmung der mit dem Konsum der psychoaktiven Substanz verbundenen Risiken durch verschiedene Möglichkeiten des Eingreifens (von Nadeltauschprogrammen bis zum kontrollierten Konsum, um die bekanntesten zu nennen).
Aus einer pragmatischen Strategie, keiner defätistischen, wird sich in den nächsten Jahren eine veritable Sozialpolitik entwickeln können, die sich von der kulturellen Einstellung abwendet, die der Prohibition zu Grunde liegt (also vom Streben nach Abstinenz durch Bestrafung und sozialen Ausschluss) und die eine ganzheitliche Sicht entwickelt, in der einerseits verantwortliche Entscheidungen des Individuums gefördert werden (natürlich auch die Entscheidung, eine Substanz nicht mehr zu konsumieren) und andererseits die soziale Toleranz von Drogenkonsum insgesamt. Die unmittelbaren Auswirkungen, das muss man immer im Auge haben, bekommen Menschen zu spüren (keine Substanzen), und wenn deren Würde und Rechte Vorrang erhalten, dann wandert das Hauptaugenmerk der Regierung vom Strafrecht hin zur Gesundheitspolitik.
Von Livio Pepino
Livio Pepino war Richter am Kassationsgericht und Mitglied des Hohen Rats der Richter, des selbstverwalteten Organs der italienischen Richter, Mitherausgeber des Magazins Narcomafie der Gruppo Abele, einer italienischen Wohltätigkeitsorganisation, Generalstaatsanwalt von Turin und Autor mehrerer Bücher und Artikel zu den Themen Mafia, Drogenabhängigkeit und soziale Stigmatisierung.
NEUES AUS DEM VORSTAND
Wir bereiten uns für die Jahrestagung der UN-Kommission für Suchtstoffe UNGASS vor.
(siehe unten)