ENCOD-BULLETIN ZUR DROGENPOLITIK IN EUROPA
DROGEN IN EUROPA
JUNI 2016
Nach zehn Jahren habe ich Dr. Fabrizio Cinquini auf der Indica Sativa Trade, der Cannabis-Messe in Bologna, kennengelernt. Ich wusste, dass er aufgrund seiner Forschung zu neuen medizinischen Cannabissorten strafrechtlich verfolgt wurde. Der Anbau zuhause ist in Italien immer noch verboten, wenn es dem Vatikan nicht passt, und ich hatte es unglücklicherweise nicht geschafft, ihn im Gefängnis zu besuchen. Er wartet momentan auf den Beschluss der höheren Instanz. Jeder hier hofft auf seinen Freispruch.
Ein weiterer Fabrizio, Herr Pellegrini, wird auch gerade dafür bestraft, dass er ein paar Pflanzen angebaut hat. Er ist Patient und fing vor 2007, als es legalisiert wurde, an, Cannabis zu verwenden. Da ein Gramm medizinisches Cannabis in Italien bis zu 70 Euro kosten kann, haben die Ärmeren jedoch meist keinen Zugriff.
Wenige Stunden nach meinem Treffen mit Doktor Cannabis fand ich heraus, dass eine sehr wichtige wissenschaftliche Konferenz zu Wirkung und Nutzen von Medizinal- und Genusshanf von einem Bericht des staatlichen Fernsehens über die Veranstaltung vollkommen verblüfft war. Durch den überspitzten Inhalt wurde das Video bald rasend schnell bekannt, da der italienische Fernsehsender TG3 für seine x-te Warnung vor einer neuen schrecklichen Droge sich diesmal eine recht verbreitete Substanz ausgesucht hatte: THC.
Fast eine Woche später, auch aufgrund der Proteste von Organisatoren und Wissenschaftlern des gut organisierten Treffens, von denen einige in staatlichen Drogenbeiräten tätig sind, veröffentlichte der Fernsehsender eine vollständige Berichtigung. Ende gut, alles gut?
Um ehrlich zu sein sollte die gesamte Presselandschaft in Europa ihre Berichterstattung über Drogen und Drogenpolitik grundlegend ändern. Es kann nicht sein, dass es nur wenige Berichte über die UN-Treffen zur Drogenpolitik gibt und dass die letzte Zusammenkunft der Suchtstoffkommission in Wien und die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen 2016 in New York trotz ihres kompletten Scheiterns völlig unbemerkt geblieben sind. Und der Fall des zurückrudernden italienischen Lokalfernsehsenders ist nur die Spitze des Eisbergs des allgemeinen Medienhype. Im Moment können wir über diese Sache lachen, aber diese Genugtuung hat einen bitteren Beigeschmack.
Auch bei der Berichterstattung zu Kriminalität gab und gibt es offenkundige Fälle von Verdrehung der Fakten in der lokalen Presse.
Eine Freigabe von Besitz und Anbau der Pflanzen für Erwachsene und für den persönlichen Gebrauch könnte das damit verbundene Stigma reduzieren, die Wirtschaft ankurbeln und sogar für effizientere lokale Beförderungskonzepte sorgen, die alkohol- und drogenbedingte Unfälle zu vermeiden helfen. Italien und Europa könnten endlich als ein Ort der Kultur und Freiheit gedeihen und aus den dunklen Jahrhunderten auferstehen, die bald nach Erfindung des modernen Buchdrucks ihren Anfang nahmen.
Lange vor der Kriminalisierung von Pflanzen und 50 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks wurden Italien und im Besonderen Venedig, das jahrelang die Spitze Europas darstellte, durch die Inquisition ins Mittelalter zurückgeworfen. Die meisten wissenschaftlichen Publikationen wurden verboten und sogar die Bibel in italienischer Sprache wurde auf den Index gesetzt. Viele Wissenschaftler verließen das Land und dieser Prozess setzt sich sogar heute noch fort.
Demzufolge wurden nach der Einführung der Zensur durch Staat und Kirche die meisten Bücher im Untergrund gedruckt oder illegal importiert. Manche mit falschem Titelblatt oder mit einem Impressum, in dem als Druckort die Niederlande angegeben waren.
Es ist immer noch sehr dunkel in Italien, vor allem vor dem Hintergrund eines möglichen Verbots von Cannabissamen, das die Agrarkommission angekündigt hatte.
Nach der Überprüfung einer möglichen Cannabislegalisierung, zu der keine Organisationen von Cannabis-Genusskonsumenten eingeladen waren, durchläuft der bei weitem nicht perfekte Gesetzesvorschlag von über 200 italienischen Vertretern mehrere Treffen hinter verschlossenen Türen und verschwindet womöglich im dunklen Nebel der parlamentarischen Intrigen. Oder er wird sogar ganz gekippt.
Wie bei den befreiten Sklaven aus Phrygien sollten wir, wenn wir nicht mehr das Ziel von Verfolgung sind, sondern als Bürger zurückkehren, den Drogenkriegern eine saftige Rechnung für die Verfolgung erst von Hexen, Andersgläubigen, Eingeborenen und dann von Patienten, Ärzten und Freidenkern präsentieren.
Allerdings: Wie konnte ich Dr. Cannabis meine Komplizenschaft für etwas zeigen, das unsere Seele befreit? wie er in dem Buch schrieb, dass er dem Thema persönlich gewidmet hat.
Eine große Entrüstung wird manchmal zu zweckdienlicher Wut. Wie können wir diese Wut über die Unterdrückung in eine friedliche Waffe verwandeln?
Journalisten, Patienten, Ärzte sollten die jahrhundertelange Zensur und Selbstzensur überwinden, die Italien und viele andere Länder von Wissenschaft und Vernunft entfremdet haben.
Was haben verbotene Bücher und verbotene Substanzen miteinander zu tun? Doktor Cannabis. Die Geschichte eines Arztes gegen die Prohibition (Dottor Cannabis. La storia di un medico antiproibizionista) ist nicht nur ein Buch über medizinisches Cannabis, sondern vielmehr die Entlarvung der sozialen Repression eines jungen Mannes, der gerade Chirurg wird. Fabrizio Cinquini ist kein typischer Kiffer: Er ist ein dynamischer, gut trainierter Mann, ein Kampfsportexperte mit einem gesunden Lebensstil. Bevor man ihn verfolgt, weil er Cannabis auf der Suche nach therapeutischen Anwendungen angebaut hat, sollten die italienischen Behörden lieber sein Buch verbieten.
Benutzt Euren eigenen Kopf, stellt Autoritäten in Frage (Timothy Leary)
Von Enrico Fletzer – ENCOD Lenkungsausschuss
Neues aus dem Vorstand:
Enrico Fletzer und Richard Rainsford werden am Sonntag, den 12. Juni um 13.00h einen Vortrag beim Verein MAC (Movement Activist Cannabico) in Salerno, Italien halten. Wir werden den Aufbau von Cannabis Social Clubs diskutieren und die Bildung eines Cannabis-Verbands in Italien.