ENCOD BULLETIN ZUR DROGENPOLITIK IN EUROPA
NR. 45 NOVEMBER 2008
DAS RECHT AUF GESUNDHEIT
Während die, denen es möglich ist, beginnen die Früchte ihrer letzten Ernte zu genießen, bleibt anderen selbst das Recht auf Zugang zu dem, was für ihr Wohlbefinden essenziell ist, verwehrt.
Die Kriminalisierung von Pflanzen, deren therapeutischer Nutzen sehr wohl erwiesen ist, erzeugt die extremsten Gegensätze zwischen Gesetzen, ihrer Interpretation, der Realität und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Dieses Problem ist weit verbreitet in Europa, wo einem Bürger verboten ist, eine Pflanze für sein persönliches Wohlbefinden einzusetzen, wenn diese Pflanze unter denen ist, die von internationalen Konventionen als illegal [„kontrolliert“] deklariert ist. Widersetzt er sich, riskiert er, als Krimineller betrachtet zu werden.
Während in Sri-Lanka das Ministerium für Indigene Medizin die Kultivierung von 4000 Kilo medizinischem Marihuana vorbereitet, befürwortet die EU eine Sonderfinanzierung für intensiven Tabakanbau, der einerseits, wenn er nach industrieller Behandlung erst einmal auf dem Markt ist, Millionen Menschen das Leben kosten wird – und andererseits natürlich Konzernen und Regierungen gesunde Profite verspricht.
In Italien finden trotz des gegenwärtigen repressiven und anti-wissenschaftlichen Klimas in der staatlichen Drogenpolitik in vielen Städten noch immer „Erntedankfeste“ statt. Die bedauerliche Ignoranz der Regierung ist gut erklärt an einer Äußerung Giovanardis, des Unterstaatssekretärs des Präsidenten mit Sondermandat in der Drogenpolitik, der neulich bekräftigte, dass „alle Drogen gleich“ seien und dass „selbst einmaliger Konsum das Gehirn des Users ausbrennt“ [Genießen Sie diese Stelle!].
Im Gegensatz dazu sind die Erntedank-Parties ein Versuch, das, was in den vergangenen Jahren eine realistische Möglichkeit dargestellt hat, zu erhalten sowie einzufordern, was grundlegenes Recht eines jeden Bürgers sein sollte: der Anbau von Pflanzen, die Teil des botanischen Erbes des Planeten sind, für den persönlichen Gebrauch. In einigen Städten wurde, einer langjährigen Tradition folgend, ein Teil der Ernte Patienten gestiftet.
Der Fall eines von ihnen – Fabrizio Pellegrini,
Mitglied des italienischen Verbandes P.I.C. ([Pazienti Impazienti Canapa, zu deutsch etwa: „Ungeduldige Cannabispatienten“, Anm. d. Übs.) – ist ein Paradigma der paradoxen Situation, die derzeit Italien belastet. Als an Gelenkrheumatismus leidender Konzertpianist und Maler ist Fabrizio in Besitz eines ärztlichen Rezeptes für medizinisches Cannabis, bewilligt vom niederländischen Gesundheitsministerium [Bedrocan], also importierte er es auf eigene Kosten durch den städtischen Gesundheitsdienst, und konnte für einige Monate wohlbehalten seine Therapie genießen.
Doch dank der hohen Kosten seiner Medizin und der variablen therapeutischen Kontinuität dieses „institutionellen“ Cannabis versuchte er jedes Frühjahr sich ein paar eigene Pflanzen auf seinem Balkon zu ziehen, kaum ausreichend für seine eigenen medizinischen Bedürfnisse. Er durfte nie auch nur das Ende des Blüteprozesses sehen, seit jedes Jahr sein Zuhause Ziel einer Polizeirazzia wird, seine Pflanzen konfisziert und neue Polizeiaken angefertigt werden.
Er ist seitdem mit einem Dutzend Anbauversuchen belastet und hat 4 Monate „präventiv“ im Gefängnis verbracht.
All das für die bloße Ablehnung des Schwarzmarktes [was keine Schandtat ist – wer will schon die Mafia mitfinanzieren und seine Gesundheit zusätzlichen Risiken aussetzen, anstatt seine Krankheit zu kurieren?] und dafür, nicht gut genug betucht zu sein, um sich Bedrocan zu leisten.
Fabrizio steht seute selbst nach der methodischen Zerstörung seines Privat- und Berufslebens in Italien einem konkreten Risiko entgegen, zu mehreren Jahren Haft verurteilt zu werden. Basierend auf den derzeitigen Regulierungen wird er nicht als an Krankheit leidender Bürger mit Menschenrechten betrachtet, sondern als gefährlicher Verbrecher, für den ein Zero-Tolerance-Vorgehen ein Muss sei.
Er hatte Cannabis angebaut, und sollte er aufgrund seiner medizinischen Bedürfnisse vom Gefängnis verschont bleiben, könnte er die „Straftat“ aufgrund seiner Leiden wiederholen – dies war oft der Fall, wofür er bereits zu endgültigen Gefängnisstrafen in zwei Gerichtsprozessen verurteilt wurde.
Auch in anderen europäischen Ländern stehen wir einer eklatanten Diskrepanz im Bezug auf die Gewähr des Rechts auf körperliche Unversehrtheit entgegen – welches sich mehr und mehr zu einem Exklusivrecht für die oberen Schichten entwickelt. Nur denjenigen, die über größere finanzielle Ressourcen verfügen und die Erfordernisse eines Arztes erfüllen, wird der Zugang zu legalem medizinischem Cannabis gewährt, während die große Mehrheit der Patienten in die Illegalität gezwungen ist, wenn sie von den heilenden Eigenschaften einer Pflanze profitieren will.
Das Menschenrecht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, als fundamental anerkannt durch viele nationale Verfassungen sowie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen Abs. 12] und deutlich erkennbar in [der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation [WHO], scheint in weiten Teilen Europas zu fehlen, wenn die Substanz, die benötigt wird, um die eigene Gesundheit aufrecht zu erhalten oder zu verbessern, unter den „illegalen“ Substanzen aufgeführt ist.
In der Tat kann man dies auch von der Coca-Pflanze behaupten. Die lange und bewiesene Geschichte des medizinischen und kulturellen Coca-Gebrauches wird selbst im Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit psychotropen Stoffen von 1988 akzeptiert, wo das Recht Perus und Boliviens, eine begrenzte Menge Coca für den heimischen Markt anzubauen, anerkannt ist. Die mögliche Anwendung von Mate und ähnlichen Produkten zur Behandlung der Kokainabhängigkeit weckt ebenfalls viel Interesse, seit festgestellt wurde, dass sie offenbar Entzugserscheinungen von Kokain reduzieren.
Wir hoffen, dass die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (European Agency for Fundamental Rights), deren Aufgabe es ist, die Situation der Menschenrechte in Europa zu beobachten, den Vorschlag des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments (Catania report, 33. Absatz] in die Tat umsetzt: eine Studie über die Auswirkungen der aktuellen Drogenpolitik auf die Menschenrechte muss so schnell wie möglich Teil ihrer Aktivität werden. Wir werden eine starke Lobby initiieren, um die Umsetzung dieser Studie abzusichern.
In Kooperation mit der Regierung des Baskenlandes organisiert ENCOD ein Forschungsprogramm zur Involvierung von Vereinigungen von Drogengebrauchern in die Gestaltung der europäischen Drogenpolitik. Diese Studie beinhaltet einen Fragebogen, den wir User-Organisationen bitten, auszufüllen. Auch sollen am 21.-23. November Auseinandersetzungen am runden Tisch in Vitoria Baskenland, Spanien] stattfinden. In Kollaboration mit anderen Organisationen schreiten die Vorbereitungen zum [Cannabis-Tribunal
in Den Haag am 1. und 2. Dezember ebenfalls fort.
Was Fabrizio angeht – es werden Unterstützungsaktionen vorbereitet, wie eine solidarische Internetauktion mit seinen Bildern, um die nötigen finanziellen Mittel für seinen wichtigen Kampf zu sammeln. Seine nächste Anhörung in Chieti wurde einige Tage nach dem 10. Dezember angesetzt, dem internationalen Tag der Menschenrechte. An diesem wird er dem Einsatz für seine Aufnahme unter den metallischen Skulpturen beiwohnen, aus dem das Denkmal „alle potenziellen Ziele“” auf einem der wichtigsten Plätze Roms besteht.
Um dieses Bulletin nicht mit einem bitteren Nachgeschmack zu schließen, beenden wir es mit frischen guten Neuigkeiten für Italien, wo zwei jüngste Entwicklungen einen flüchtigen Blick auf Hoffnung im Bereich des Rechtswesens bieten könnten:
Die erste ist die Wiederaufnahme des Falls von Aldo Bianzino durch das Gericht von Perugia. Aldo Bianzino ist unter ungeklärten Umständen in Haft verstorben, am Tage nach seiner Festnahme wegen Cannabisanbaus.
Die zweite könnte zur erneuten Überprüfung des Urteils führen, das im April 2008 vom Kassationshof verkündet wurde, in dem der äquivalente Bezug zwischen dem Anbau für den ausschließlichen Eigenbedarf und dem Besitz geringer Mengen schlicht verleugnet wurde. Neulich hat jedoch ein Richter die Mitglieder einer von der Kultur der amerikanischen Indianer inspirierten Gemeinschaft von der Anklage wegen Anbaus von 79 Cannabispflanzen freigesprochen. Dieser Umstand könnte neue Gelegenheiten zur Neueröffnung der Debatte um Cannabis Social Clubs hervorbringen.
Ein weiteres wichtiges Urteil kam aus den Niederlanden, wo das oberste Gericht einen an Multipler Sklerose leidenden Niederländer von der Anklage wegen Cannabisanbaus freisprach – der Patient legt jetzt gegen 250 Euro Bußgeld Berufung ein.
Alessandra Viazzi
Übersetzung durch: koshka