Quelle: FAZ
Von Claudius Seidl
30 November 2009
Die gute Nachricht, die in diesem Herbst aus Afghanistan kam, geht so: Zum ersten Mal seit Jahren ist die Produktion von Opium zurückgegangen; zwanzig Prozent weniger Mohn als im vergangenen Jahr wurden angebaut, zehn Prozent weniger Rauschgift wurden daraus gewonnen.
Die schlechte Nachricht, die leider dazugehört, läuft darauf hinaus, dass das alles nichts mit dem Krieg des Westens, der auch ein Krieg gegen die Drogen ist, zu tun hat: nichts mit Förderprogrammen und Strafmaßnahmen, nichts mit Hamid Karzai, nichts mit der afghanischen Polizei, nichts mit zerstörten Feldern oder verhafteten Drogenhändlern. Es liegt einzig daran, dass der Weltmarkt, so schätzen Experten, im Jahr ungefähr fünftausend Tonnen nachfragt; allein in Afghanistan wurden aber fast siebentausend Tonnen produziert. Logischerweise ist also der Preis so stark gefallen, dass es sich für den einen oder anderen Bauern wieder lohnt, Getreide anzubauen statt des Mohns.
Die gute Nachricht, die in diesem Herbst aus Rio de Janeiro kam, war, dass die Bewohner der Stadt, ja, eigentlich alle Brasilianer sich wirklich sehr gefreut haben darüber, dass die Olympischen Spiele des Jahres 2016 nach Rio vergeben wurden; viele taten, was die Welt von ihnen erwartete, sie tanzten Samba an den Stränden von Ipanema und Copacabana und feierten mit südlichem Temperament.
Die schlechte Nachricht lieferte das Fernsehen ein paar Tage später, als es ein Amateurvideo zeigte aus einer der vielen Favelas in Rio: Unten, in den Gassen, gab es Feuergefechte, oben, in einem blauen Himmel, ratterte ein Polizeihubschrauber; dann explodierte ein großkalibriges Geschoss, und der Hubschrauber stürzte ab; die Gangster hatten ihn abgeschossen. Hunderte solcher Favelas gibt es in Rio, fast alle werden von Gangs regiert, während der Staat sich weitgehend zurückgezogen hat – und im „New Yorker“, in einer erschütternden Reportage aus Rio, stand in derselben Woche die Mitteilung, dass die Feuerkraft aller Gangs in Rio ungefähr neunmal größer sei als die Feuerkraft der gesamten brasilianischen Polizei. Dass das Geld, mit dem die Waffen bezahlt werden, aus dem Drogenhandel kommt, versteht sich fast schon von selbst.
Die gute Nachricht, die in diesem Herbst aus dem Norden Mexikos kam, stand zwischen zwei Buchdeckeln, und auf der Titelseite las man die kryptische Zahl „2666“. In Roberto Bolaños großem, nachgelassenem Roman bilden Drogenkrieg, Korruption und organisiertes Verbrechen rund um die Grenzstadt Ciudad Juárez einen blutroten und sehr stimmungsvollen Hintergrund. Die schlechte Nachricht stand auf Zeitungspapier; sie läuft darauf hinaus, dass Bolaño sich da nichts ausdenken musste; ja, dass, seit er dort war, um Anschauung zu sammeln, alles noch viel schlimmer geworden ist. Verschiedene Gangs, die nach dem Monopol im Drogenschmuggel und -handel streben, bekriegen einander mit unmenschlicher Grausamkeit; die Polizei ist bestochen oder sie hat kapituliert, und dass, wo so viel Munition verschossen wird, nicht nur Gangster einander massakrieren, sondern täglich Unbeteiligte und Unschuldige getroffen werden, ist eben das Risiko dieser Leute, die sich in vielen Städten im Norden so fühlen müssen, als ob sie in der Hölle lebten.
Wenn bei uns, in jenem Teil der Welt, den wir den Westen nennen, über diese Dinge gesprochen und geurteilt wird, wenn Nordamerikaner und Europäer darüber nachdenken, wie der Widerstand in Afghanistan gebrochen werden soll, wie die Vorstädte Rios befriedet und der Norden Mexikos wieder zivilisiert werden könnten – dann kommt eigentlich immer die gleiche Antwort heraus: Da die neue Macht der Taliban genauso wie die Feuerkraft der brasilianischen Gangs und die Herrschaft des organisierten Verbrechens aus dem Handel mit illegalen Drogen kommt, müssen diese Drogen noch härter und konsequenter bekämpft werden, und am besten geht das, wenn man, indem man schon die Mohn- und Coca-Felder zerstört, der Produktion die Grundlage entzieht und die Distribution mit noch mehr und noch besser ausgerüsteten Polizisten zu unterbinden versucht. Die Vereinigten Staaten leisten sich zu diesem Zweck die Drug Enforcement Administration, kurz D.E.A., und in der „Frankfurter Rundschau“ war in diesem Sommer ein sehr interessantes Zeugnis dafür abgedruckt, wie die D.E.A. ihre Arbeit versteht. Thomas Schweich, drei Jahre lang Führungskraft bei der Behörde, die er verließ, weil sie ihm zu weich, zu kompromisslerisch geworden war, Schweich schilderte, was seiner Ansicht nach zu tun sei in Afghanistan, und um einen sehr langen Bericht sehr kurz zusammenzufassen: Er schlug vor, statt mit Polizeimitteln lieber mit militärischem Gerät gegen den Drogenanbau vorzugehen, buchstäblich also einen Krieg gegen die Drogen zu führen, mit großen Flugzeugen, welche die Mohnfelder mit gigantischen Mengen von Pflanzengift bombardieren und für lange Zeit unfruchtbar machen sollten.
Das Angebot sinkt, die Nachfrage nicht
Mal abgesehen davon, dass hier, im Negativ gewissermaßen, die Begründung dafür formuliert wird, weshalb die Taliban so viele Unterstützer unter Afghanistans Zivilisten finden – nicht weil die sich zurücksehnten nach deren Herrschaft, sondern weil der gemeinsame Feind sie zwangsläufig zu Verbündeten macht; abgesehen außerdem davon, dass hier, in der fast schon irrationalen Wut und Wucht dieser Vernichtungsphantasie, besonders anschaulich wird, dass dieser Kampf gegen die Drogen nicht nur eine politische und eine militärische Dimension hat, sondern auch eine kulturelle – ein ungeheurer Hass aufs Fremde und Unverstandene scheint da am Werk zu sein; abgesehen davon also, dass in den doppelten Böden der Drogenschmuggler immer auch Zentnerlasten von Komplexität versteckt sind, lernt man doch schon im Grundkurs Volkswirtschaftslehre, was die Folgen solchen Handelns sind: Das Angebot sinkt, die Nachfrage aber nicht. Also steigt der Preis, und mit den Profiten wächst auch die Macht der Gangster und Kartelle.
Und weil das auch im Umkehrschluss gilt, muss man leider sagen, dass weniger die Drogen schuld haben an all den Verbrechen, der Gewalt, dem Unglück: Es ist vielmehr der Umstand, dass sie so streng verboten sind.
Und weil man so etwas nicht einfach dahinsagen oder -schreiben darf, wurde dieser Satz einst überprüft in einem gigantischen Experiment, das dreizehn Jahre lang dauerte und dessen Ergebnisse eindeutig waren. Am 16. Januar 1920 trat in den gesamten Vereinigten Staaten der „National Prohibition Act“ in Kraft, der den Handel mit allen Getränken verbot, deren Alkoholgehalt höher als ein halbes Prozent war. Am 5. Dezember 1933 wurde, was in Amerika „The Noble Experiment“ heißt, für beendet erklärt. In der Zeit dazwischen stieg der Alkoholkonsum, was sich, da Bier, Wein, Whisky ja verboten waren, zwar niemals exakt messen ließ: Aber wenn es im New York der späten Zwanziger dreimal so viele (wenn auch illegale) Bars gab wie zehn Jahre zuvor (aus Chicago und Los Angeles liegen ähnliche Zahlen vor), wird es schon nicht daran gelegen haben, dass die Amerikaner sich das Trinken abgewöhnt hätten. Das organisierte Verbrechen etablierte sich und baute sich mit den Gewinnen aus dem Alkoholschmuggel ein so solides ökonomisches und logistisches Fundament, dass, als der Whisky wieder erlaubt war, die Mafia ohne größere Probleme umsteigen konnte auf jene Drogen, die weiterhin illegal blieben.
Produktive Prohibitionszeiten
Ohne das Alkoholverbot wäre der Gangster als mythische Figur und Rollenmodell niemals so populär geworden, die Filmgeschichte wäre ärmer, die amerikanische Literaturgeschichte auch; selbst John F. Kennedy fand die Grundlage für seinen Aufstieg im Vermögen seines Vaters Joe, der die meisten seiner vielen Dollars mit dem Schnapsschmuggel verdient hatte. Kulturell sind Prohibitionszeiten meistens sehr produktiv, weil große Erzählungen große Bösewichter brauchen – so manche Reportage, die in diesem Jahr aus Mexiko berichtete, hätte man gern verfilmt gesehen: damit Furcht und Mitleid das Publikum erschütterten.
In jeder anderen Hinsicht sind Drogenverbote absolut unproduktiv, und der Rigorismus, mit dem wir die illegalen Drogen verfolgen, hat weniger mit der Sorge um die Süchtigen zu tun (die ja an den Folgen der Illegalität meist heftiger leiden als an den unmittelbaren Wirkungen des Drogenkonsums). Die Opiate und die Amphetamine, das Tetrahydrocannabinol: Die sind halt, anders als die starke Droge Alkohol, Fremde in unserer Kultur. Und sollen auch dann noch draußen bleiben, wenn längst offensichtlich ist, dass wir unsere Grenzen nicht dichthalten können.
Nein, hier soll nicht verschwiegen werden, dass Cannabis auf Dauer dumm und stumpf macht, nicht, dass die Amphetamine die Herzen vereisen, und auch nicht, dass das chemische Glück der Opiate den, der sie nimmt, so ruhigstellt, dass er vergisst, auch in der Welt nach dem Glück zu streben oder die Urheber seines Unglücks zu bekämpfen – und es wäre vielleicht auch zu viel verlangt, wenn wir die Befriedung der Favelas oder Afghanistans mit einem Anstieg der Drogensucht bei uns hier, in Europa und Nordamerika, bezahlten.
Weniger Scheitern, weniger Unglück
Aber das „Noble Experiment“ hat gezeigt, was auch alle zaghaften Legalisierungsversuche belegen: Die Nachfrage nach Drogen sinkt nicht, wenn das Gift verboten wird, und sie steigt nicht, wenn man es freigibt. Es gibt nicht mehr Heroinsüchtige, aber deutlich weniger Beschaffungskriminalität, weniger Scheitern, weniger Unglück. Im Staat Kalifornien, wo man neuerdings die Regeln für Cannabis als Medizin sehr tolerant auslegt, freut man sich jetzt über gestiegene Steuereinnahmen – und wenn die Gewinne aus dem Anbau von Opium bei afghanischen Bauern und westlichen Finanzämtern blieben, hätte niemand einen Schaden davon. Außer den Taliban und der Mafia.
Wie man vernünftigerweise eine Droge bekämpft, deren Schädlichkeit erwiesen ist, zeigt doch unser Umgang mit dem starken und gefährlichen Nervengift Nikotin: Die Raucher in Europa sind vielleicht noch nicht so gnadenlos sozial geächtet wie in Amerika; aber Coolness-Punkte gibt es fürs Rauchen schon lange nicht mehr. Und die Verbannung der Zigarette aus Zügen, Flügen, Taxis, das Rauchverbot in Restaurants und öffentlichen Gebäuden, die inzwischen allgemein anerkannte ungeschriebene Regel, dass man gefälligst seine Mitmenschen um Erlaubnis fragt, bevor man sich so ein weißes Stäbchen ins Gesicht steckt: Das alles hat nicht nur zu einem höheren Wohlbefinden der Nichtraucher geführt; es hat auch den Verbrauch der Raucher gesenkt – der Tabakkonsum ist überall, wo strengere Gesetze erlassen wurden, zurückgegangen.
Aber kein Raucher wurde in die Illegalität getrieben, kein Tabakhändler muss die nächste Razzia fürchten, keine Mafia schöpft die Gewinne ab.
Ist es wirklich so illusionär, wenn man sich solche Verhältnisse für alle Drogen wünschte?
Text: F.A.S.