Von Daniel-Dylan Böhmer und Martin Scholz
19.06.2014
Drogen und Korruption schwächen die westafrikanischen Staaten massiv. Jetzt fordert der frühere UN-Generalsekretär Annan die Legalisierung weicher Drogen – als Mittel gegen Staatsverfall in Afrika.
Ein neuer Bericht der Westafrikanischen Drogenkommission, der am Donnerstag weltweit veröffentlicht wird, beschreibt, wie Drogen und Korruption die Staaten der Region massiv schwächen. Und er fordert, nicht mehr die Drogenkonsumenten zu verfolgen, sondern umso stärker die großen Bosse. Einer der Initiatoren der Studie ist Kofi Annan, der als UN-Generalsekretär von 1997 bis 2006 besondere Achtung erlangte und auch heute noch oft bei Krisen um Rat gefragt wird. Ein Gespräch über die Legalisierung weicher Drogen, Syrien und die stille Kunst der Diplomatie.
Die Welt: Herr Annan, in Ihrem Bericht schreiben Sie, die Korruption durch den Drogenhandel schwäche die Staaten Westafrikas. Sind korrupte Verwaltungen überhaupt in der Lage, sich zu wehren?
Kofi Annan: Ich hoffe, dass unser Bericht eine ernsthafte Debatte darüber anstößt. Wir müssen die Drogenindustrie besser, gezielter bekämpfen, als das bisher der Fall war, weil sie das Geld für diese Korruption anhäuft. Wir müssen erkennen, dass das Problem viel verbreiteter ist, als man denkt, und wir müssen mit den USA und Europa kooperieren, um den Druck auf die Drogenbarone zu verstärken. Sie dürfen in Westafrika nicht weiter freie Hand haben. Wir haben bereits in Mittelamerika gesehen, wie sehr ihr Einfluss den Ländern dort geschadet hat. Das darf uns nicht auch in Westafrika passieren.
Die Welt: In dem Bericht erwähnen Sie auch Verbindungen zwischen Drogenkartellen und Terroristen in Westafrika. Es gibt zwar kein Netzwerk, aber eine sporadische Zusammenarbeit. Welche Bedrohung geht davon konkret aus?
Annan: Fest steht, dass die Drogenindustrie in dieser Region nicht nur die Korruption in den politischen Systemen fördert. Sie verschärft auch die Sicherheitsproblematik in Afrika. Die Milizen der Sahelzone beispielsweise finanzieren sich durch den Schmuggel von Zigaretten, Menschen und eben Drogen. Wir müssen deren Lieferrouten blockieren. Denn die Drogen landen am Ende in Europa und die Gewinne werden verwendet, um afrikanische Staaten zu untergraben.
Die Welt: Gibt es Erkenntnisse, inwieweit Drogenbarone al-Qaida oder die islamistische Miliz Boko Haram unterstützen, die noch immer etwa 200 Schulmädchen gefangen hält und jetzt weitere 20 Frauen entführt hat?
Annan: Es ist gegenwärtig schwer zu beziffern, welchen Anteil Drogengeld an der Finanzierung von Boko Haram hat. Aber es gibt Anzeichen, dass al-Qaida an der Kontrolle über die Schmuggelwege für Drogen beteiligt ist. Wie groß die Gewinne sind, lässt sich nur erahnen.
Die Welt: Sie sagen, der “Krieg gegen Drogen” ist gescheitert. Warum?
Annan: Der Krieg gegen Drogen hat nur den Drogenhändlern die Möglichkeit gegeben, sehr viel Geld zu verdienen. Gleichzeitig hat er das Leben vieler junger Menschen in Amerika, Afrika und andernorts zerstört, die verhaftet wurden, weil sie ein halbes Gramm irgendeiner Substanz bei sich hatten.
Die Welt: Wo sehen Sie die maßgeblichen Fehler?
Annan: Es fängt damit an, dass man Drogensucht als Gesundheitsproblem behandeln und gleichzeitig umso härter die großen Drogenhändler bekämpfen sollte. Sie sind es, die diesen jungen Menschen schaden und mit ihren Bestechungsgeldern staatliche Institutionen zersetzen. Wir müssen unsere bisherige Drogenpolitik kritisch hinterfragen. Woran hat es gelegen, dass sie fehlgeschlagen ist? Im Fall der Alkoholprohibition in den USA hatte die Regierung seinerzeit den Mut umzusteuern. Diesen Mut brauchen wir heute auch. Drogen haben das Leben vieler Menschen zerstört. Aber falsche Regierungspolitik hat noch sehr viel mehr Leben vernichtet.
Die Welt: In Ihrem Bericht treten Sie jetzt für eine Legalisierung des Konsums und des Besitzes geringer Mengen von Drogen ein. Aber in den Niederlanden, wo diese Politik einmal begonnen wurde, wird sie heute teilweise zurückgenommen. Warum setzen Sie dennoch auf dieses umstrittene Modell?
Annan: Insgesamt war die liberale Drogenpolitik sowohl in den Niederlanden als auch in Portugal eher ein Erfolg. Fest steht doch, dass diese Politik für eine Verringerung der Kriminalität gesorgt hat. Sie hat vor allem die großen Gesundheitsprobleme eingedämmt, die mit illegalem Drogenkonsum zusammenhängen.
Die Welt: Aber in den Niederlanden wird der Drogenkonsum heute streng kontrolliert: Coffeeshops dürfen Cannabis nur an eine begrenzte Zahl gemeldeter Mitglieder ab 18 Jahren abgeben. Diese dürfen bei nur einem Händler eingeschrieben sein. Ist so eine Regulierung für die schwachen Staaten Westafrikas überhaupt zu bewältigen?
Annan: Genau das ist ja das Problem. Es fehlt dort an Mitteln, um überhaupt solche Strukturen aufzubauen. Dafür müssen wir kämpfen. Aber diese Investition würde sich lohnen, weil es auf Dauer viel teurer kommt, wenn man die Drogenhändler gewähren lässt, wenn die Staaten weiter untergraben werden und ihre Bevölkerung unter den gesundheitlichen Folgen leidet. Hier geht es um sehr große Investitionen, und Westafrika braucht Hilfe dabei.
Die Welt: Sie haben kürzlich gesagt, dass die vielen Krisen von heute – in der Ukraine, Syrien, Boko Haram in Nigeria – Sie an die Mitte der 90er-Jahre erinnern, an Ex-Jugoslawien, Somalia oder Ruanda. Warum scheinen wir aus der Geschichte nichts gelernt zu haben?
Annan: Weil wir Menschen sind. Unser kollektives Gedächtnis ist sehr kurz. Wenn Sie heute Leute nach Jugoslawien fragen, sagen die vielleicht: “Stimmt, da war mal was.” Aber sie stellen keine Verbindung zu den aktuellen Konflikten her. Obwohl das alles nur 20 Jahre zurückliegt.
Die Welt: Gibt es für die Internationale Gemeinschaft also keine Lehren, die sich aus den Krisen der 90er ziehen ließen – aus ihrer Bewältigung oder aus den Fehlern, die begangen wurden?
Annan: Ich glaube: Ja. Die Lektion ist, dass wir immer für den Dialog offen sein müssen. Dass wir uns nicht von unseren Vorurteilen leiten lassen sollten, wenn wir einzuschätzen versuchen, wie die andere Seite sich verhalten wird.
Die Welt: Man hat nicht den Eindruck, dass dieser Wunsch in Syrien oder der Ukraine nachhaltig umgesetzt wurde.
Annan: Ich hatte eigentlich gehofft, dass das leichter werden würde durch die Öffnung der Welt, die verbesserte Kommunikation. Ich glaubte, man könne heute viel einfacher zum Smartphone greifen und die Dinge in Ruhe regeln. Stattdessen reden wir immer aufgeregter durcheinander. Wir beschuldigen und verurteilen einander. Regierungen beziehen Positionen, die sich sofort verhärten, von denen sie sich kaum mehr zurückziehen können. Am wichtigsten ist der Dialog zwischen den Großmächten – aber es muss ein Dialog im Stillen sein. Sobald man das öffentlich macht, wird es viel schwerer, einen Kompromiss zu finden. Keine Seite will das Gesicht verlieren oder als feige gelten. Wir müssen offen kommunizieren, aber wir müssen auch diskret verhandeln können.
Die Welt: Was würde das gegenwärtig im Fall der Ukraine bedeuten?
Annan: Da hat es viele Debatten über Sanktionen gegeben. Als das anfing, war ich gerade in Berlin und habe Ihren Außenminister Frank-Walter Steinmeier getroffen. Ich stimmte mit ihm überein, bei diesem Thema zurückhaltend zu agieren, denn Sanktionen gehören zu den Fragen, bei denen der Standpunkt sehr davon abhängt, in welcher Situation sich der jeweilige Akteur befindet. Da gibt es zum einen die USA, die sehr hart auf Sanktionen drängen, aber eigentlich kaum Handel mit Russland treiben. Dann sind da Deutschland und einige andere EU-Staaten, die nicht nur Energieabkommen mit Moskau geschlossen haben, sondern auch enge Handelsbeziehungen zu Russland pflegen. Wenn man zu starken Druck ausübt, führt das nur zu einer Spaltung der Europäer. Denn auch bei denen gibt es ja Unterschiede: Die Balten und die Polen sind für eine sehr harte Linie, die Franzosen, Briten, Deutschen haben eine differenziertere Haltung und die Südeuropäer, die Spanier, Griechen, Italiener, sagen: “Wir haben unsere eigenen Probleme.” Wenn da jeder auf seinem Standpunkt beharrt, führt das nur zu Problemen für alle.
Die Welt: Welche Rolle spielen die Vereinten Nationen beim Umgang mit diesen Konflikten? Der Sicherheitsrat scheint in der Ukraine oder in Syrien keine effektive Vermittlungsinstitution mehr zu sein.
Annan: Wenn wir vom Sicherheitsrat sprechen, dann meinen wir eigentlich dessen mächtige Mitgliedsstaaten. Wir sollten ihnen kein Alibi geben, indem wir immer reflexartig die UN zum Schuldigen erklären, wenn es mit diplomatischen Initiativen nicht vorangeht. Im Fall Syrien brauchte es eine Kerngruppe, die Verantwortung für eine Lösung übernimmt. Dazu müssten die Vetomächte gehören – Russland, die USA, Großbritannien, Frankreich und China – und die Großmächte der Region, wie Saudi-Arabien, der Iran, die Türkei und Ägypten. Wenn sie nicht kooperieren, dann versucht weiter jeder seine Verbündeten in Syrien zu stärken und die Gewalt geht weiter.
Die Welt: Gäbe es denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt eine Grundlage für ein gemeinsames Agieren in Syrien? Immerhin haben Sie selbst Ihr Amt als UN-Sondergesandter für den Konflikt wieder abgegeben und Ihr Scheitern eingestanden.
Annan: Für so eine Kooperation müssten sich die Großmächte darauf einigen, keine weiteren Waffen nach Syrien zu liefern und kein Geld mehr für den Kampf zur Verfügung zu stellen. Bei der Genf-1-Konferenz im Sommer 2012 hatten wir ja schon erste Schritte in diese Richtung gemacht. Im gemeinsamen Abschlusskommuniqué wurde eine Übergangsregierung mit voller Autorität gefordert, und die Russen und Chinesen haben diese Erklärung unterschrieben. Letztlich hatten also alle zugestimmt, dass Assad auf Dauer abtreten solle. Zu klären war nur noch, wie das zu geschehen hatte. Aber stattdessen fuhren alle nach New York zurück und stritten sich weiter. Sie machten einander Vorwürfe, statt sich zum Wohl der Region zusammenzuraufen. Diese Gegensätze haben tragische Folgen. Denn die Einzigen, die ernsthaft einen Preis dafür zahlen, sind die Menschen in Syrien.
Die Welt: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vergangene Woche Bilder von Assad sahen, wie er sich während der sogenannten Wahl in Syrien zeigte?
Annan: Ich möchte Ihnen darauf mit einer Gegenfrage antworten: Wenn in einer Kriegszone Wahlen abgehalten werden – ist das dann legitim? Ist es glaubwürdig? Hat es Integrität?
Die Welt: Ihr Nachfolger als UN-Sondergesandter für Syrien, Lakhdar Brahimi, ist auch abgetreten. Hat es überhaupt einen Sinn, einen neuen Vermittler zu ernennen?
Annan: Wenn alle Vetomächte und regionalen Staaten zusammenkämen und gemeinsam fragten: Sollen wir noch einen neuen Sondergesandten nach Syrien schicken? Dann würde ich ihnen antworten: Ja, wir brauchen einen neuen Sondergesandten. Aber mehr noch brauchen wir Entschlossenheit, Einfallsreichtum und Ernsthaftigkeit von allen Beteiligten. Das ist der einzige Weg, um einem Vermittler künftig effektive Unterstützung zukommen zu lassen und wirklich zu helfen, diesen Konflikt beizulegen.
Die Welt: Warum hat das nicht geklappt?
Annan: Das werde ich immer wieder gefragt. Man kann das Konzept der Schutzverantwortung der Vereinten Nationen nicht auf jeden Konflikt anwenden. Es gab in Bezug auf Syrien ein Problem mit Russland und China, weil sie glauben, es sei in Libyen zu weit ausgedehnt worden. Dass es zu einem Mandat für einen Regimewandel umgedeutet wurde. Deshalb waren beide Länder sehr zurückhaltend, als ich in Syrien ein Waffenembargo vorschlug. Für Russland und China war das ein sehr rutschiges Parkett, sie befürchteten ein zweites Libyen – und das wollten sie nicht.